Wechselwirkung zwischen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und politischen Entscheidungsfindungsprozessen in der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich
Teilprojekt Philipp Scheurer
Die aktuelle Debatte über die politische (Un-)Abhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts hat auch bei vielen Deutschen die Sensibilität für die Bedeutung einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit für den demokratischen Rechtsstaat erhöht. Wenn auch nicht in dem Umfang wie in Polen sind auch in Deutschland die Beziehungen zwischen Politik und Verfassungsgericht umstritten. So sahen sich zuletzt Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts wegen eines gemeinsamen Abendessens mit Mitgliedern der Bundesregierung im Sommer 2021 dem Vorwurf der Befangenheit in den Verfahren bezüglich der sog. Corona-Maßnahmen ausgesetzt. Das Gericht habe deshalb nicht mehr unabhängig über die Corona-Maßnahmen urteilen können. Politik und Verfassungsgericht seien zu eng verflochten.
Aber auch die Politik selbst bemängelt gelegentlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich unzulässig in politische Fragen einmische und sich als „Ersatzgesetzgeber“ geriere. Das Bundesverfassungsgericht hingegen moniert ein angebliches Abschieben unliebsamer Entscheidungen der Politik auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Teilprojekt analysiert vor diesem Hintergrund die Wechselwirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und politischer Entscheidungsprozesse als typisches Merkmal einer modernen liberalen Demokratie, die nicht alleine den Willen der jeweiligen politischen Mehrheit als Maßstab staatlichen Handelns sieht, sondern staatliches Handeln auch am Maßstab des geltenden (Verfassungs-)Rechts ausrichtet.
Hierbei werden Fallgruppen analysiert, in denen verfassungsgerichtliche Entscheidungen einerseits einen stockenden politischen Prozess wiederbelebten - wie etwa bei der Grundsteuerreform oder bei der Frage der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften im Verhältnis zur Ehe bis hin zur Entscheidung des Gesetzgebers, die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Auf der anderen Seite beendeten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch Debatten wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht.
Das Projekt wird den Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf den deutschen politischen Prozess mit dem Einfluss des Appellate Committee of The House of Lords bis 2009 bzw. des UK Supreme Courts seit diesem Jahr (also der britischen Verfassungsgerichtsbarkeit) auf die britische Politik miteinander vergleichen. Der Grund für die Auswahl der beiden Staaten ist, dass laut vieler Rechts- und Politikwissenschaftler Deutschland als Sinnbild einer starken und das Vereinigte Königreich als Vertreter einer schwachen Verfassungsgerichtsbarkeit gilt. Daher will das Projekt auch der Frage nachgehen, inwiefern die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Verfassungsgerichtsbarkeit in einer globalisierten Welt noch sinnvoll ist. Daher wird auch die internationale bzw. europäische Einbettung der beiden Systeme untersucht, insbesondere bezüglich des Einflusses des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf beide Systeme.