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Kulturen politischer Entscheidung in der modernen Demokratie

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"Sie können noch so hysterisch dazwischenrufen". Eine Emotionsgeschichte des politischen Moralisierens am Beispiel der bundesdeutschen Gesundheitspolitik der 1980er und 1990er Jahre

Teilprojekt Judith Grosch

Moralisierung und Emotionalisierung politischer Diskurse sind in aller Munde. Doch wie genau definiert man Moralisierung eigentlich? In welchem Zusammenhang steht sie mit der Emotionalisierung bestimmter Themen? Welche Funktionen erfüllt Moralisieren in politischen Debatten und Entscheidungsprozessen? Und sind nun Emotion und Moralismus etwas klassisch Linkes, Grünes, etwas, das den christlichen Parteien vorbehalten ist oder eigentlich ein uraltes Mittel von populistischer und rechter Rhetorik? Und wie genau sah Moralisieren vor Zeiten des Internets aus? Diesen Fragen widmet sich das Forschungsvorhaben und fragt nach einer neutralen Definition von „Moralisierung“ und ihrer Funktion in politischen Debatten und Entscheidungsprozessen. Beispielhaft wird dabei die Gesundheitspolitik der 1980er und 1990er Jahre untersucht, wobei es unter anderem um Raucherpolitik gehen soll, um Kinder als moralisches Argument, um Abtreibung, Alkohol, Aids und die lebhaft diskutierte Gesundheitsreform von 1989. Dabei sollen die Rolle der Medien ebenso untersucht werden wie der Bundestag als politische Bühne und die „privateren“ Räume von Ausschüssen, Ministerien und Fraktionen. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Frage danach, welche Vorstellungen von politischer Verantwortlichkeit hier ausgehandelt worden sind. Denn politische Moralisierung wirft immer die Frage um Zuständigkeit und Verantwortung auf und verhandelt so die Frage mit, wie Staat und Demokratie, in denen man lebt, eigentlich ausgestaltet werden sollen.

Das emotional regime der 1980er-Jahre

Die Ursprünge der heutigen politischen Emotionskultur liegen bereits in den 1970er-Jahren, in denen das linksalternative Milieu, die Frauenbewegung und der sogenannte „Psychoboom“ Ängste nicht nur depathologisierten, sondern Emotionen auch zur Basis von politischem Handeln und ihre Artikulation zur unabdingbaren Voraussetzung für alltägliches Zusammenleben machten. Die 1980er-Jahre trugen dieses neue emotional regime in noch extremerer Weise in den politischen Raum als zuvor: So schöpfte auch die Umwelt- und Friedensbewegung ihre enorme Mobilisierungskraft zu großen Teilen aus der Aktivierung und positiven Aufwertung von Emotionen und den aus ihr abgeleiteten und über sie transportierten Moralvorstellungen. Und spätestens mit dem Eintritt der Grünen-Partei in den Bundestag hielt eine neue emotionalisierte politische Rhetorik Einzug in bundespolitische Debatten. Die Grünen erfanden das Moralisieren im Bundestag keinesfalls – doch was ihr politisches Sprechen in besonderem Maße auszeichnete, war die offene Artikulation von Gefühlen als Mittel der Transportierung von Moralvorstellungen. Dieses rhetorische Mittel machte es möglich, solche politischen Themenbereiche einer moralischen Neubewertung auszusetzen, die zuvor als nicht-moralisch wahrgenommen worden waren – da sie nicht in den klassischen Fragenkomplex rund um Kirche und Sitte verhandelt worden waren.

Körperbezogene Gefühle

Insbesondere körperbezogene Emotionen spielten für die Moralisierung der Gesundheitsdebatten der 1980er-Jahren eine entscheidende Rolle: die Angst vor radioaktiver Strahlung, Pestiziden und Gentechnik, ungesunder Industrienahrung, Krebs, Aids, Herzinfarkten und stressbedingten Krankheiten einerseits und die Angst vor einem Staat, der seine BürgerInnen nicht ausreichend vor ebenjenen Gefahren schützte, schlugen sich nieder in einem Kult um Ernährung, Vegetarismus, Yoga und anderen Stressmanagementtaktiken, in einem Boom der Fitnessbranche und schließlich auch in politischen Debatten um Gesundheit und Körper, in die Emotionen wie Ängste, aber auch Scham, Vertrauen, Wut und Empörung Eingang fanden. Eben diese Debatten, die Moral, die in ihnen ausgehandelt wird und die Frage danach, wer für wen und wessen Körper Verantwortung trägt, stehen im Zentrum des Projekts. Und letztlich soll es um die Frage gehen: Wie beeinflussten diese neu ausgehandelten Moralvorstellungen die politischen Entscheidungen, die am Ende der Debatten standen?

Der transnationale Vergleich

Eine dreifach vergleichende Perspektive zwischen Bundesrepublik Deutschland, DDR und Polen verspricht dabei Erkenntnisse über die zeitgleich bestehenden Unterschiede in den jeweiligen politischen Systemen, aber auch über ihre transnationalen Parallelen im Umgang mit Emotionen. Das Projekt ermöglicht daher auch tiefere Einblicke in mögliche internationale Verflechtungen, die sowohl über die Ost-West-Grenzen im späten 20. Jahrhundert als auch über die zeitliche Zäsur von 1989 hinausgehen.